Farmsen-Berne vor fünfzig Jahren.
Im Berner Boten plädiert Bürgermeister Peter Schulz im Februar 1974 in einem nachdenklichen Artikel für eine menschliche Stadt und erläutert die Planungen für
das Neubaugebiet Billwerder-Allermöhe.
Schon einmal baute die Stadt mehr Sozialwohnungen, als andere Städte, aber nicht alle damaligen Erkenntnisse wurden in der Folge beachtet, der zitierte frühe Bau des Schnellbahnsystems erreichte z.B. die neuen Großsiedlungen nicht rechtzeitig. Der Plan, ein Neubaugebiet für 60.000 Menschen zu errichten, scheiterte schließlich am Widerstand von Teilen der SPD und des Koalitionspartners FDP, in der Folge wurde in Billwerder-
Allermöhe deutlich kleiner gebaut.
Zitate aus dem Berner Boten vom Februar 1974
Plädoyer für eine menschliche Stadt
Weder Siedlungen aus der Retorte noch Konservierung morscher Idyllen lösen das Problem
Von Bürgermeister Peter Schulz
Großstädte drücken heute überall in der Welt im Prinzip die gleichen Probleme, und sie haben auch eins gemeinsam: Die dynamische Entwicklung auf fast allen Gebieten unseres menschlichen Zusammenlebens.
Zwar mag die eine oder andere Stadt auf diesem oder jenem Gebiet besser dran sein, diese Feststellung kann aber doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in jeder Großstadt auch jene Schattenseiten gibt, die das moderne Leben zu einer so komplizierten Veranstaltung machen.
Die Chance, dieser Probleme Herr zu werden, ist nicht so sehr in lupenreinen Lösungen zu suchen, sondern in der Tatsache, daß wir alle skeptischer und kritischer, auch selbstkritischer, geworden sind. Dies setzt uns weit mehr als früher in den Stand, unsere Städte mit geschärften Sinnen zu bauen und umzubauen, zu ergänzen und zu korrigieren, zu erneuern und zu moder-nisieren, kurzum dafür zu sorgen, daß die Stadt sich ihre Wohnlichkeit erhält oder sie wiedergewinnt.
Wir alle haben gerade in den letzten zehn Jahren dazugelernt, und ich zweifle nicht daran, daß dies in hohem Maße auch auf die immer wirksamer werdende „Anteilnahme“ der Bürger am Geschehen und auf ihre Kritik zurückzuführen ist. Ganz falsch wäre es wohl, über das, was heute die Ansätze zur kritischen Diskussion liefert, zu vergessen, was trotz allem geleistet wurde.
Es war gewiß mehr als unsere Kraft heute zu leisten imstande wäre und weit mehr auch als irgendjemand als möglich zu prophezeien gewagt hätte, als alles in Trümmerstaub und Hoffnungslosigkeit erstickt war! In Hamburg hatte der Krieg die Hälfte aller Wohnungen zerstört. Das Dach über dem Kopf nahm damals jeden mehr in Anspruch als die Lust, kurzatmig einer halbwegs tauglichen Theorie des Städtebauens nachzujagen; ich kenne niemanden, der legitimiert wäre, diese Haltung heute – vom sicheren Port aus – zu bespötteln.
Seither haben wir in Hamburg über eine Million Wohnungen neu gebaut und davon immerhin zwei Drittel
Sozialwohnungen. Keine andere Stadt in Westdeutschland erreichte diese Zahlen. Wir sind stolz auf die Leistung der Aufbaujahre, aber wir übersehen nicht die Irrtümer – weltweit verbreitete Irrtümer übrigens, die in Mailand nicht anders gewirkt haben als in Boston oder Glasgow, in Marseille, in Kiew oder Stockholm. Welche Stadt ist dabei schon ungeschoren geblieben? Sie alle, Nutznießer und Leidtragende des Wachstums und zunehmenden Wohlstandes, sind nun damit beschäftigt, aus den Wirrnissen modernen Lebens seine Segnungen herauszufiltern.
Man erkennt es schon an den Metaphern, die wir alle benutzen: Heute „platzen Stadte aus den Nähten“, „veröden“ in ihrem Innern und „zerlaufen“ in die Umgebung, weil sie sich nicht häuserweise, sondern in ganzen
Stadtvierteln vergrößern. Früher „wuchs“ eine Kommune gemächlich Haus
um Haus, was uns wiederum heute dazu verführt, mit diesem biologischen Begriff zu operieren und von den „gewachsenen Teilen“ unserer Städte zu sprechen – obwohl sie namentlich in der Gründerzeit überhaupt nicht gewachsen, sondern nach den handfesten Besitzregeln der damaligen Gesellschaft gebaut und nicht selten unter spekulativen Umständen aus dem Boden gestampft worden sind. Nur: im Verlaufe eines Jahrhunderts oder mehr ist darin das Leben „gewachsen“, ist wirklich angewachsen und hat Wurzeln geschlagen und die gebaute Umwelt sich zur Heimat gemacht.
Das ist ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt für eine menschliche, die Würde des Menschen achtende Städtebaupolitik geworden.
Deshalb lehnen wir Flächensanierungen, wie sie lange genug üblich waren, ab.
Heute wissen wir: Die Zeit ist vorbei, in der wir es für statthaft hielten, ein Stadtgebiet zu erneuern, indem wir es erst einmal zertrümmern; denn damit werden soziale Bindungen zerrissen. Das trifft nicht zuletzt Kinder, die besonders an ihrer gewohnten Umwelt hängen, das trifft ebenso hart ältere Menschen, für die der Wohnungswechsel oft ihre Isolierung bedeutet, ihre Entwurzelung. Als Sozialdemokraten haben wir die Pflicht, auch diesen Menschen ein Optimum ihrer Art von Lebensqualität zu verschaffen. Und Lebensqualität ist dabei nicht unbedingt dasselbe wie Wohnungskomfort; der auch nötig ist. Eine verlorene Nachbarschaft ist schwer zu ersetzen.
Wir wollen diese Stadtteile vor allem aktivieren. Deshalb dürfen wir uns auch nicht in eine gefährliche pseudosoziale Rührseligkeit versetzen und uns blind machen lassen vor dem wirklich Abbruchreifen, vor dem Wohnungselend in pittoresken Gehäusen. Es ist unser Ziel, alte Häuser nicht aus Rücksichtslosigkeit oder Bequemlichkeit einfach durch neue zu ersetzen, sondern die alte Substanz, wo immer es möglich oder nötig erscheint, zu erhalten und zu modernisieren. Aber wir können unwürdige Verhältnisse nicht um irgendeiner Kulissensehnsucht willen verlängern. Modernisieren heißt ja nichts anderes, als den Bürgern einen zeitgemäßen Wohnungskomfort verschaffen, auf den sie bisher verzichten müssen und auf den sie einen Anspruch haben.
Auf ein modernes Bad, auf eine angenehmeKüche, auf Zentralheizung, alles Dinge, die mit dem Wort „Komfort“
eigentlich falsch beschrieben sind.
Es ist klar, daß die Kommunen sich etwas ausdenken müssen, erstens um den Althausbesitzern einen Anreiz zu geben –beispielsweise durch Zinszuschüsse zu Darlehen; zweitens um zu verhindern, daß nur die Hausbesitzer reicher werden, statt die Mieten modernisierter Wohnungen erschwinglich anzusetzen. Aus gutem Grund wollen wir mit der Hilfe über Darlehen ein Belegungsrecht der Stadt koppeln. Ich bin ganz sicher: Die Menschlichkeit einer Stadt wird entscheidend mitbestimmt durch die Art und Weise, wie wir mit gewachsenen Strukturen umgehen, wie wir nicht sanieren sondern aktivieren, und auch davon, ob es gelingt, eine vernünftige Mitte zu finden zwischen der Beseitigung unwürdiger Wohnungen, der Aktivierung erhaltenswerter Substanz und der Fortentwicklung solcher Gebiete durch den Bau moderner Wohnungen. Diese Wohnungen können nicht alle durch die Verdichtung vorhandener Bebauung geschaffen werden. Für Bäder, Küchen, Zentralheizungen, für Spielplätze und notwendige Grünanlagen brauchen wir Raum.
Raum, der bei gegebenen Umständen aber in der Regel nicht vorhanden ist. Deshalb wird es weiterhin notwendig sein, schon um der Erhaltung der gewachsenen Strukturen wegen, auch auf der grünen Wiese zu bauen.
Alle großen Städte sind konfrontiert mit dem Auszug des Städters in die Umgebung seiner Stadt. Diese Variante der Mobilität hat für jede Stadt sehr komplexe Folgen, deren offensichtlichste und zugleich empfindlichste die wirtschaftlichen Folgen für das Gemeinwesen sind. Die Stadt ist das Spiegelbild ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse, denn sie bestimmen ihre soziale Entwicklung wesentlich. Will sie gedeihen, braucht sei das Wachstum. Niemand kommt darum herum. Gleichwohl beten wir das Wachstum nicht an, aber es gibt auch keinen realistischen Grund, Wachstum von vornherein abzulehnen; das wäre auch nichts weiter als eine romantische Reaktion. Niemand kann aber im Sinn haben, Wachstum als Wildwuchs zu dulden und dabei die Stadt, die lebenswerte Stadt preiszugeben. Das bedeutet, daß Industrien nicht um jeden Preis animieren, sich auszubreiten, daß wir mit aller Strenge darauf sehen, daß ein wirtschaftlicher Aufschwung nicht bezahlt wird mit einer gestörten Umwelt. Aber – es gibt keinen Zweifel, daß Hamburg wie jede Metropole auf neue interessante Industrien angewiesen ist, solche vor allem, die hochqualifizierte Arbeitsplätze ständig neu schaffen.
Und das bedingt wiederum die Anstrengung, die Stadt selber attraktiv zu machen; weniger kapriziös ausgedrückt: sie wohnlich zu machen. Es soll Spaß machen, hier zu leben.
Nicht zuletzt das hat uns bewogen, auf einem in Gemeindeeigentum befindlichen Terrain im Südosten Hamburgs einen ganzen neuen Stadtteil für etwa 70 000 Menschen zu planen, Es ist wichtiger Bestandteil unseres Stadtentwicklungskonzeptes. Inzwischen ist der Name dieser Ansiedlung – Billwerder-Allermöhe – für viele zu einem Reizwort geworden. Niemand, der sich der Problematik dieses Unternehmens bewußt ist, wird davon überrascht sein, und niemand wollte die kritischen Fragen als nur lästig von sich weisen. Das Projekt Allermöhe ist ein schwieriges Projekt. Aber wir dürfen nicht immer nur die Fehler der Vergangenheit beklagen und allenfalls theoretisch aus ihnen lernen – wir haben vor allem die Pflicht, die Konsequenzen im tatsächlich stattfindenden Städtebau umzusetzen, entschlossen, möglichst einfallsreich, unter Hinzuziehung vor allem auch jener Wissenschaften, die nur allzu oft erst dann geholt werden, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, d. h. dann, wenn die Siedlung, das Neubaugebiet schon steht und soziales Leben sich nicht entwickeln will.
Von den Erfahrungen der jüngsten Städtebaugeschichte gebrannt, ist es selbstverständlich, daß wir weder eine „Stadt aus der Retorte“ aus dem Boden stampfen wollen, nur auf die große Zahl versessen, noch daß wir uns eine irreale Idylle er-träumen, sondern etappenweise vorgehen werden, korrigierbar unter Bewahrung der größtmöglichen Flexibilität. Allermöhe wird keine Siedlungswüste werden, sondern ein Stadtteil, in dem wir auch demonstrieren werden, was unter städtischer Lebensqualität im Neubaugebiet zu verstehen ist. Wir haben nicht vor, darüber die anderen Stadtteile verkümmern zu lassen, und wir werden sehr genau aufpassen, daß andere Stadtteile nicht ihre Bewohner nach Allermöhe verlieren: Wir wollen keine Stadtteil-Klassen, keine Einbahnstraße der stadt-internen Wanderungen.
Durch Orthodoxe zeichnet sich auch Hamburgs Denken zum Thema Verkehr nicht aus. Hamburg hat den Vorzug, schon sehr früh mit dem Bau seines Schnellbahnsystems begonnen und ihn kontinuierlich fortgesetzt zu haben. Wir brauchen diese allgemeinen Verkehrsmittel mehr denn je – aber es wäre absurd, ins Extrem zu fallen und nun das Auto zu verteufeln.
Vielen Bürgern hat es immerhin ein früher nicht gekanntes Maß an Mobilität und Freiheit gegeben. Worum es geht, das ist, mit Anstand und Konsequenz den Komromiß zu finden, der dem Wohl der Allgemeinheit am zuträglichen ist. Jedenfalls haben wir gelernt, keine Straßenschneisen mehr durch die bebaute Stadt zu schlagen. Kahlschläge sind irreparable Schäden, und wir haben – anderswo mehr als in Hamburg – erlebt, wie Stadtteile durch solche Schneisen erwürgt werden.
Wie oft man auch so wunderschöne Begriffe wie den der „menschlichen Stadt“ auf der Zunge zergehen läßt: sie sind blanke Träumerei, wenn nicht die harten Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Menschenwürdiges Wohnen bedeutet preiswertes Wohnen. Erschwingliches Wohnen bedingt ganz bestimmte gesetzliche Situationen. Aus dem schillernden Kaleidoskop will ich nur einen Punkt herausgreifen, der über seine ökonomische Bedeutung zu gesellschaftspolitischer Bedeutung gelangt ist und unsere Diskussion seit ein paarJahren sehr intensiv belebt: das Bodenrecht. Es ist einer der Hauptverursacher städtischr Kala-mitäten.
Was uns in Hamburg das Projekt Allermöhe möglich gemacht hat, war auch die Tatsache, daß hier das gesamte Gebiet in städtischem Eigentum ist. Was uns dagegen soviel Kopfzerbrechen am sogenannten Hexenberg, einem Sanierungsgebiet in St. Pauli, bereitet hat, war das Zusammensammeln der Grundstücksfetzen.
Es hat uns Hamburger runde fünfzehn Jahre beschäftigt. Jetzt müssen wir endlich verhindern, daß einzelne gewaltige Summen einstreichen können, die die Allgemeinheit aufbringen muß. Wir kommen also nicht darum herum, das Gesetz, mit dem wir dergleichen einschränken wollten, neu zu überdenken, das Städtebauförderungsgesetz. Ohne Frage hat uns dies Gesetz mancherlei Vorteile gebracht – entscheidend geholfen und weitergebracht hat es uns nicht; dies ist seine Schwäche. Mit uns meine ich die Komunen, vor allem die Städte. Und das sind nun einmal die Heimstätten für 80 Prozent unserer Bürger am Ende dieses Jahrhunderts!
Zitate aus dem Berner Boten vom Februar 1974
Marc Buttler
Peter Schulz (* 25. April 1930 in Rostock; † 17. Mai 2013 in Hamburg)
1949 Abitur in Rostock. Flucht der Familie aus der DDR, Studium der Rechtswissenschaften in Hamburg; 1959 Zulassung als Anwalt; Landesvorsitzender der Jusos und Bundesgeschäftsführer des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes; 1961 Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft; 1966 Senator, Präses der Justizbehörde; 1970 Zweiter Bürgermeister und Präses der Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung; 1971 Erster Bürgermeister, der jüngste seit 1678; 1974 Rücktritt nach Verlusten bei der Bürgerschaftswahl; 1978 Präsident der Bürgerschaft; 1989/1990 juristischer Berater der Stadtregierung Rostocks, Wiederaufbau der örtlichen SPD.