Im Januar/Februar 1972 berichtet der Berner Bote u.a. erneut über den Friedensnobelpreis für Willy Brandt und die Ostpolitik.
Mit drei Großanzeigen versuchten 62 Top-Manager und Unternehmer Stimmung gegen die Bundesregierung zu machen.
Zitate aus dem Berner Boten vom Januar/Februar 1972
Bilanz von Bonn (Seiten 5/6 – Auszug –)
Halbzeit in der ersten Legislaturperiode, in der die Sozialdemokraten den Bundeskanzler stellen. Wo steht die Partei?
Die Antwort wurde in Bonn gegeben. Man erinnert sich kaum eines Bundeskongresses, den die Öffentlichkeit mit solch spektakulären Interesse verfolgte, wie den Steuer- und Reformparteitag zu Ende des letzten Jahres.
Stattgefunden hat ein Konzil der Sachlichkeit, der offenen, nüchternen Diskussion. Aufgezeigt wurde ein sozialdemokratischer Kurs, der sich zwar nicht von heute auf morgen in der Tagespolitik durchsetzen läßt, der aber auch genau sowenig im Utopischen angesiedelt ist.
Die Partei erwies sich als die geschlossene, dynamische Kraft, die unseren Staat in die Zukunft führen kann.
Ist die Partei nach links gerückt?
Die Ansicht, dass Volkspartei heißt, die Belange der Bevölkerung, also in erster Linie der Werktätigen, wahrzunehmen und zu fördern und nicht ein gesellschaftspolitisches Neutron zu sein, gewann an Boden.
Die von der CDU der Adenauer-Zeit geprägte Stilrichtung – Entpolitisierung der Massen – trat merklich in den Hintergrund. Wenn man unter alledem „links“ verstehen will, dann ist die SPD nach links gerückt. Besser wäre freilich zu sagen, sie hat ihre Konturen als progressive Volkspartei verschärft.
Die Zeiten der Anpassung – die Pionierjahre nach dem Godesberger Programm von 1959 – sind ganz offensichtlich beendet. Man hat es nicht mehr vordringlich nötig, zu beweisen, dass man kein Bürgerschreck ist; man bemüht sich jetzt vielmehr konzentriert, unter Beweis zu stellen, dass man es besser, das heißt natürlich auch anders, als die konservativen Parteien macht. Mit einem Wort: Das Selbstbewusstsein ist gestiegen.
Willy Brandt appellierte im Zusammenhang mit der Beschlussfassung über die Steuerreform, die Kuh, also die Wirtschaft, auf der Weide zu lassen und zu melken, anstatt sie zu schlachten. Dem wurde letztlich auch stets entsprochen.
Das zeigt die Ablehnung des Antrags, die Körperschaftssteuer auf 58 statt auf 56 Prozent zu erhöhen. Andererseits waren die Delegierten auch keinesfalls angefroren. Auf 60 Prozent wollen sie den Höchstsatz für die Einkommensteuer erhöht sehen und nicht nur auf 56 Prozent, wie das die Eppler-Kommission vorschlug. Aber sollte daran die Wirtschaft zugrunde gehen, dass ein paar Superverdiener (über 200 000 DM jährlich) etwas entschiedener zur Kasse gebeten werden?
„Es bleibt die selbstverständliche Aufgabe der Partei, ihre Zielvorstellungen über den Tag hinaus zu formulieren. Aufgabe der Regierung ist es, zu entscheiden, was sie unter den gegebenen Umständen für möglich hält, was jetzt zu tun ist. Und die Bundestagsfraktion wird immer wieder prüfen, was sie durch ihre eigenen Anstrengungen verbessern und beschleunigen kann.“ So bezeichnete es der Kanzler in seinem Referat über die „politischen Aufgaben nach der Halbzeit“.
Und weiter: „Diese Partei hat keinen ideologischen Universalschlüssel, aber sie ist groß geworden durch ihr Gespür für konkrete Menschlichkeit. Dies ist besonders wichtig in einer Zeit, wo es gilt, den Alptraum einer Zukunft zu bannen, über die wir Menschen die Herrschaft verlieren, die Furcht vor einer übertechnisierten Zivilisation, die an sich selbst erstickt.
Die Zukunft wird nicht gemeistert von denen, die am Vergangenen kleben. Sie kann nur gemeistert werden von denen, die sich der Mühe unterziehen, klare Wertvorstellungen immer von neuem in politische Praxis zu übersetzen.“
Der Parteitag kann die Regierung nicht ans Gängelband nehmen. Das wurde zu Recht klargemacht. Er muss aber Perspektiven aufzeigen, ohne die die praktische Politik Gschaftlhuberei bliebe.
Der Bonner Kongress hat diese Ausblicke gegeben.
Anmerkung der Redaktion:
Die Aussagen von Willy Brandt, dem ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, auf dem Parteitag der SPD Ende 1971 und sein Ausspruch in seiner Regierungserklärung Ende 1969 „Mehr Demokratie wagen“ zeugen von einer Aufbruchstimmung, die u.a. mit den Ostverträgen mit Moskau und Warschau, die Grundlage für ein Vereinigtes Deutschland schufen.
Die neue Regierung unter Führung von Olaf Scholz, der am 8. Dezember 2021 vom Deutschen Bundestag zum vierten sozialdemokratischen Kanzler nach Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder gewählt wurde, verspricht mit ihrem Koalitionsvertrag unter der Überschrift „Mehr Fortschritt wagen“, eine ähnliche Dynamik für die Zukunft unseres Landes zu entwickeln. Wir wünschen der neuen Bundesregierung dabei viel Erfolg.
Willy Brandt (1913-1992)
Seit 1930 Mitglied der SPD
1964-1987 SPD-Parteivorsitzender
1957-1966 Regierender Bürgermeister von Berlin
1966-1969 Bundesaußenminister u.Vize-
kanzler im Kabinett Kiesinger
1969-1974 Bundeskanzler
1970 Unterzeichnung der Ostverträge mit
Moskau und Warschau
1971 erhielt Willy Brandt für seine neue
Ostpolitik den Friedensnobelpreis
Ostverträge
Der Moskauer-Vertrag wurde am 12. August 1970 und der Warschauer-Vertrag am 7. Dezember 1970 unterzeichnet.
Beide Verträge wurden vom Deutschen Bundestag am 17. Mai 1972 ratifiziert.
Im Blickpunkt (Seite 3)
„Die Friedenspolitik dieser Regierung ist so deutlich erkennbar, dass eigentlich keine andere Macht irgendwelcher Spione bedarf, um sich davon zu überzeugen.“
Conrad Ahlers, Regierungssprecher, am 14. Oktober 1971 in der Fragestunde des Bundestages.
*
„Heute ist ein Tag, der uns alle in Deutschland eint in Freude und im Dank“
Bischof D. Hermann Kunst, Bevollmächtigter des Rates der Evangelischen
Kirche Deutschlands am 21. Oktober 1971 an Bundeskanzler Willy Brandt zur Verleihung des Friedensnobelpreises.
*
„Da der Dienst der Versöhnung und das Bemühen um den Frieden die große Aufgabe der gegenwärtigen Stunde ist, freuen wir uns, dass einem deutschen Politiker diese Ehrung zu Teil wurde.“
Kardinal Julius Döpfner, Erzbischof von München/Freising und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, am 21. Oktober 1971 im Namen des deutschen Episkopats an Bundeskanzler Willy Brandt zur Verleihung des Friedensnobelpreises.
Politik aktuell (Seiten 11-13 – Auszug –)
Oslo, den 10. Dezember 1971
Die Überreichung des Friedensnobelpreises an Bundeskanzler Willy Brandt hat nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch am Ort des Geschehens, in Oslo und Stockholm, ein lebhaftes zustimmendes Echo gefunden. Am Abend der Übergabe veranstaltete die Jugend der Konservativen Partei – vergleichbar mit der Jungen Union bei uns –vor dem Hotel des Bundeskanzlers einen eilig organisierten Fackelzug. Während in Baden-Württemberg der CDU-Vorsitzende Ganzenmüller die Verleihung des Preises abzuwerten versuchte und auch WeltChefredakteur Herbert Kremp gegen die Verleihung polemisierte, schrieben die norwegischen Konservativen auf ihre Transparente: „Willy Brandt ein würdiger Friedensnobelpreisträger“. In der überfüllten Stockholmer Hauptkirche, wo Willy Brandt eine Rede von der Kanzel gehalten hatte, sagte anschließend Stockholmer Bischof Ström: „Ihre (Brandts) Art, die Dinge zu sehen, hat der konservativen Kirche geholfen, neuen Zeiten freimütig entgegenzusehen“.
Besondere Ehrung auch durch den schwedischen König: Beim Bankett der diesjährigen Nobelpreisträger wurde Brandt als der wichtigste Gast betrachtet.
Berlin-Vereinbarung unter Dach und Fach
Welche Vorteile bringen uns die innerdeutschen Abkommen, die den Vier-mächteVertrag über Berlin erst mit Leben erfüllen?
1. Die bisher langwierigen und häufig willkürlichen Kontrollen bei der Autofahrt nach Berlin entfallen. Die Reisenden können im Wagen bleiben. Es werden nur ihre Papiere überprüft.
2. Die Gebühren, die bisher jeder Reisende einzeln entrichten musste, werden künftig pauschal bezahlt.
3. Nur bei Missbrauch des Abkommens dürfen Reisende zurückgewiesen werden.
4. Im Güterverkehr werden nur noch die Begleitpapiere u. Verschlüsse kontrolliert.
5. Westberliner können jährlich an insgesamt 30 Tagen nach Ostberlin und in die DDR reisen.
Die Vereinbarungen bringen gegenüber dem bisherigen Zustand einen erheblichen Fortschritt:
Sie werden wirksam, wenn die Verträge von Moskau und Warschau ratifiziert sind und das Berlin-Abkommen von den Alliierten in Kraft gesetzt ist. Voraussichtlich Anfang Februar werden die Bundestagsberatungen beginnen; sie sollen bis zur Jahresmitte beendet werden.
Hätten sie doch geschwiegen
Mit drei Großanzeigen versuchten 62 Top-Manager und Unternehmer Stimmung gegen die Bundesregierung zu machen. Unter der Überschrift: „Wir können nicht länger schweigen“ behaupten sie:
– Wir stehen heute schlechter da als in der Flaute des Jahres 1966.
– Die Leistung der Wirtschaft ist im Laufe des Jahres 1971 zunehmend
geschrumpft.“
– Wir stehen unmittelbar vor einer Rezession.
Die Tatsachen sprechen eine andere Sprache:
– Nach den Berechnungen des unabhängigen Sachverständigenrates liegen die Nettogewinne der Unternehmen um 40 % höher als bei derHochkonjunktur 1965.
– Der Index der Produktionsergebnisse (1962 = 100) stieg kontinuierlich an, nämlich von 159,5 im ersten Vierteljahr 1971 auf 166,6 im dritten Vierteljahr 1971.
– Noch am 20. Oktober 1971 sagte Otto Wolff von Amerongen, Mitunterzeichner der Anzeige, „Von einer Rezession globaliter kann man, weiß Gott, noch nicht sprechen.“
Warum diese Panikmache?
Otto A. Friedrich, Flick-Generaldirektor und ebenfalls Mitunterzeichner der Anzeige, sagte am 6. November 1971: „Ein bißchen Angst schadet uns allen nicht, wenn wir dadurch wieder zur Vernunft kommen.“
Mit anderen Worten: Die Unternehmer möchten – nicht zuletzt im Blick auf Lohnverhandlungen – ein Geschäft mit der Angst machen. Diese Rechnung darf und wird nicht aufgehen.
Ende der Zitate aus dem Berner Boten vom Januar/Februar 1972
Heiner Widderich