Im November 1971 berichtet der Berner Bote über die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt .
Zitate aus dem Berner Boten vom November 1971
Der Erfolg von Berlin
(Seiten 1 und 2 – Auszug –)
Die Entspannungs- und Friedenspolitik der sozialliberalen Koalition unter Führung von Bundeskanzler Willy Brandt hat einen großen Erfolg gebracht: Die Botschafter der vier ehemaligen Alliierten haben sich erstmals seit Kriegsende auf eine rechtlich festgelegte Berlin-Regelung geeinigt. Verschiedene Einzelheiten müssen noch in Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR geklärt werden, doch schon heute ergeben sich aus der Botschafter-Einigung für die West-Berliner und die Bundesbürger eine Reihe von Verbesserungen:
Die West-Berliner können erstmals seit dem Bau der Mauer wieder ihre Verwandten und Freunde in Ost-Berlin und der DDR besuchen. (Die bisherigen Passagierschein-Regelungen galten nur für Ost-Berlin und für bestimmte Zeiträume. Die Bewohner West-Berlins werden den Bundesbürgern also gleichgestellt, wenn sie nach Ost-Berlin und in die DDR reisen wollen.)
Der Verkehr zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin wird erleichtert, beschleunigt und vereinfacht. (Bisher konnten die DDR-Behörden völlig willkürlich den Verkehr behindern, zum Teil ganz lahmlegen.)
Die Sowjets übernehmen – zusammen mit den drei Westalliierten – Verantwortung über die Zugangswege. (Bisher erklärten die Sowjets ständig, die DDR könne völlig frei über den Berlin-Verkehr verfügen.)
Die Straßenbenutzungsgebühren werden pauschal bezahlt. (Bisher musste jeder Reisende die Gebühren an die DDR-Behörden aus eigener Tasche bezahlen.)
Die West-Berliner können erstmals seit 1958 wieder mit Bundes-Reisepässen in Staaten des Warschauer Paktes reisen. Die Pässe erhalten lediglich einen Vermerk der Westalliierten. (Bisher konnten West-Berliner bei Reisen ins östliche Ausland nur ihre behelfsmäßigen Aus-weise benutzen.)
Die Bundesrepublik kann die Interessen West-Berlins international vertreten. (Auch das wurde von den Sowjets und ihren Verbündeten bisher immer bestritten.)
Ausschüsse und Fraktionen des Bundestages können weiter in West-Berlin tagen. Alle Bundesbehörden bleiben in der Stadt. (Während die Sowjetunion die politische Verbindung zwischen West-Berlin und dem Bund immer heftig kritisierte, erkennt sie jetzt erstmals die Zusammengehörigkeit an.)
All das gehört auf die Erfolgsbilanz der Botschaftervereinbarung. Was musste der Bund nun für diese vielen Verbesserungen „zahlen“?
Die Botschafter einigten sich darauf, dass West-Berlin weiterhin kein Teil der Bun-desrepublik ist und nicht vom Bund regiert wird. Gleichzeitig aber gestehen die Sowjets zu, dass die bestehenden Bindungen zwischen dem Bund und West-Berlin erhalten bleiben und weiterentwickelt werden.
(Damit wird nur der gegenwärtige Status von Berlin umschrieben. Schon 1949 erklärten die Westmächte, dass West-Berlin kein Teil der Bundesrepublik ist. Dadurch bleibt die Verantwortung der Westmächte erhalten, denn der Bund könnte West-Berlin im Ernstfall nicht verteidigen. Also kein Nachteil für den Westen.
Im Gegenteil: Die Bindungen können mit ausdrücklicher Beteiligung der Sowjets ausgebaut werden. Bundesorgane (Bundespräsident, Bundesregierung, Bundesversammlung, Parlament) dürfen keine Hoheitsakte in West-Berlin vornehmen. (Der Bundestag war 1965 zum letzten Mal in West-Berlin. Es wird also auch hier nur der augenblickliche Stand festgelegt. Außerdem ist es für den Bund nicht mehr notwendig, demonstrativ in West-Berlin Hoheitsakte vorzunehmen, da die Sowjets die Bindungen an die Bundesrepublik anerkannt haben.)
Die Sowjetunion darf in West-Berlin ein Generalkonsulat eröffnen, das bei den drei Westmächten akkreditiert ist.
Was bleibt unter dem Strich?
Die Berlin-Vereinbarung bringt Erleichterungen für die Menschen sowie eine Bestätigung des Zusammenhalts von West-Berlin und dem Bund. Dafür erkannte der Westen lediglich an, dass West-Berlin kein Teil der Bundesrepublik ist – was er auch nie bestritten hat.
Berlin – ein Erfolg der vorausschauenden Strategie Willy Brandts
(Seite 2)
17 Monate brauchten die Vier-Mächte-Botschafter, um ein befriedigendes Berlin-Abkommen auf den Tisch zu legen. 17 Monate brauchten auch einige Heißsporne in diesem Lande, bis es ihnen wie Schuppen von den Augen fiel: Willy Brandts ehrlicher Versuch einer Versöhnung mit unseren osteuropäischen Nachbarn ist nicht nur die einzige mögliche Politik des Friedens, sondern auch die einzige richtige Politik, um endlich deutsche Interessen wahrzunehmen. Als einige Emotional-Oppositionelle um billiger Landtagswahl-Effekte willen noch von „Ausverkauf“ und „Verzicht“ tönten – als es um den Moskauer und Warschauer Vertrag ging – nahm der Kanzler die Sowjets beim Wort: Der Entspannungswille der UdSSR kann am besten in den Berlin-Verhandlungen sichtbar werden. Danach geht’s an die Ratifizierung der Ostverträge im Bundestag. Zweiter Punkt der Kanzler-Taktik: Die DDR muss in die Entspannungsbewegung hinein. Daher: Konkretes Dachabkommen der vier Mächte mit indirekter Beteiligung der BRD über unsere westlichen Freunde – das haben wir jetzt. Und: Verhandlungen von Egon Bahr mit Staatssekretär Kohl über ein Verkehrsabkommen zwischen beiden deutschen Staaten. Gesamtziel: Berlin lebt ohne Krisen-Drohung; und DDR/BRD einigen sich unter der Entspannungs-Garantie der UdSSR und der Sicherheitsgarantie unserer Partner über die Einzelheiten. Das sind die clever zusammengefügten Mosaik-Steine des Willy-Brandt-Bildes.
Schade nur, dass einige Politiker bei uns erst begreifen, wenn so ein Bild fast fertig ist. Willy Brandt und Egon Bahr haben schon 1961 Skizzen entworfen.
Anmerkung der Redaktion:
Willy Brandt (1913-1992)
Seit 1930 Mitglied der SPD
1964-1987 SPD-Parteivorsitzender 1957-1966 Regierender Bürgermeister von Berlin
1966-1969 Bundesaußenminister und Vizekanzler im Kabinett Kiesinger
1969-1974 Bundeskanzler
1970 Unterzeichnung der Ostverträge mit Moskau und Warschau
1971 erhielt Willy Brandt für seine neue Ostpolitik den Friedensnobelpreis
Ostverträge
Der Moskauer-Vertrag wurde am 12. August 1970 und der Warschauer-Vertrag
am 7. Dezember 1970 unterzeichnet. Beide Verträge wurden vom Deutschen Bundestag am 17. Mai 1972 ratifiziert.
Zitat
„Der lange Marsch der Reformen bringt mehr als alles revolutionäre Gerede!“
Willy Brandt, SPD-Vorsitzender und Bundeskanzler
Ende der Zitate aus dem Berner Boten vom November 1971
Heiner Widderich