So lautete die Schlagzeile im Wochenblatt Ende Mai 2020. Dieser Bericht gab mir den Anstoß, mir endlich das Haus Meiendorfer Stieg 5 ansehen zu wollen.
In Begleitung einer Mitarbeiterin der Gartenstadt durfte ich die Abrissbaustelle betreten und das Haus auch innen ansehen. Der Anblick dieses baufälligen Gebäudes erschütterte mich.
Es waren zwar auch die Spuren des Abrissbaggers zu sehen, aber ich konnte doch erkennen, dass von dem übrigen stattlichen Berner Siedlungshaus auch vorher schon nicht viel übrig war.
Die letzten Nutzer hatten es offensichtlich in einem sehr desolaten Zustand hinterlassen. Meine Großeltern Wilhelmine und Otto Henker waren die ersten Nutzer gewesen und haben dort bis Mitte der 30er Jahre gewohnt. Sie zogen dann zu ihrer Tochter Gertrud am Meiendorfer Mühlenweg.
Durch die briefliche Schilderung Gertruds an ihren Verlobten (auf See) habe ich lange nach ihrem Tod die Umstände erfahren, wie mein Vater Hans Henker im August 1933 in diesem Haus von der Gestapo verhaftet wurde.
„29. August 1933
Inzwischen hat sich nun etwas ereignet, das gibt auch unseren Absichten ein anderes Gesicht. Ich komme am Sonntag nach Berne und erfahre dort, daß Hans und Köhler verhaftet und in Fuhlsbüttel eingeliefert sind. Hans war im Haus, Mutter wollte ihn bereden, wieder fortzugehen, und als ob sie rechte Ahnung gehabt hätte, Hans wird in der Nacht vom K.z.b.V. (Kommando zur besonderen Verwendung) abgeholt. Eine furchtbare Geschichte, weil Mutter versucht hatte, den Hans zu verstecken und zu leugnen, daß er im Hause war. Unglücklicherweise hatten die Eltern, wie schon so oft, die Tür nicht verschlossen, so stürmten sie gleich nach oben. Sie verschleppten den Jungen zum Stubbenland und müssen ihn furchtbar verprügelt haben. Denn Vater kam nachher kreidebleich vom Stubbenland. Er war mit einem Arbeitskollegen hingegangen und sahen nun zu zweit die Zeugnisse des Vorgefallenen. Blut an Decke und Wänden. Vom Fußboden aufgewischt, aber draußen auf den Fliesen den halben Weg bis zum Wald hinunter, Blut. Sie haben noch einen Landnachbarn als Zeugen geholt, dann alles reingemacht, um Mutter den Anblick zu ersparen. Die Kunde vom Vorgefallenen war innerhalb kurzer Zeit durch Berne gerast, ob das nun für den Nationalsozialismus wirbt? Vater hat über den Verbleib des Jungen vom Donnerstag bis Sonntag nichs erfahren können. Man bekommt eben in derlei Sachen keine Auskunft. Am Sonntag brachte irgendwer die Nachricht, daß H. und K. in Fuhlsbüttel eingeliefert sind. Wer weiß, wann und wie wir ihn wiedersehen. Mutter soll sich recht tapfer gezeigt haben, aber was nützt das alles? Ich fürchte sogar, man wird Vater und Mutter im Verlaufe dieser Sache auch noch holen … und unsere Heirat schieben wir hinaus, bis sichere Zeiten eingetreten sind. ….ich habe den Mut verloren, das Heiraten zu betreiben, so sehr bedrückt mich die Angst und Sorge, daß Du, und wer weiß noch, in die Sache hineingezogen werden. …. Das ist nun der neue Geist? Wahrhaftig, ich finde noch weniger Idealisten unter ihnen als unter den Materialisten, ist das nicht zum Verzweifeln? Machen ihren Führer zum Götzen und ihren Gruß zum Geßlerhut.“
„5. September 1933
Unser Hans ist tatsächlich in Fuhlsbüttel. Mutter bekommt seine Wäsche zum Waschen und muss sie auch wieder hinschicken. Eine Mark die Woche darf er empfangen, sonst gar nichts. In den ersten vier Wochen darf er uns nicht schreiben und Besuche erst nicht bekommen. Vater und Mutter grämen sich sehr darum, Vater sieht noch älter aus und Mutter wird immer schlanker.“
Gegen meinen Vater wurde Haftbefehl erlassen wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“. Ihm konnte aber nicht nachgewiesen werden, dass die vorgeworfenen Waffenübungen noch nach der Machtübernahme stattgefunden hatten. Am 5. Februar 1934 wurde deshalb der Haftbefehl aufgehoben. Meine Eltern lernten sich erst 1936 kennen. Mein Vater hat sein Leben lang über die Geschehnisse geschwiegen. Er ist am 2. Mai 1942, 38jährig, in Russland gefallen. Dass ich noch Spuren von meinem Vater finden würde, konnte ich nach so langer Zeit nicht erwarten. Mein Besuch in seinem Elternhaus war für mich dennoch wichtig, hat mich aber nicht mehr geschmerzt.
Mit diesem Familienhintergrund sehe ich mit Befremden fast jeden Tag die im Gedenken an ein altes abgerissenes Haus aufgestellten Holzkreuze auf der Berner Brücke.
Ingeborg Henker-Kelsch
Beitragsbild: Gartenstadtsiedlung Hamburg-Berne, Baubeginn 1920-1921; Foto: Sammlung Gartenstadt Hamburg eG